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30 Jahre nach dem EM-Wunder

Appetizer des Monats: Juli 2023. Europameisterschaft 1993.

Die Crunchtime des Jahrhunderts

Innenansichten eines EUROPAMEISTERS: über das Finale von München, über Qualen auf der Bank und einen Dreier, der ewig unterwegs war.

Text: Moritz Kleine-Brockhoff

Über unsere EM ’93 ist wahrscheinlich alles gesagt und alles geschrieben. Nur noch nicht von allen. Deshalb sind wir nun, knapp 30 Jahre nach dem Finale von München, ganz am Ende der Bank angekommen, also bei mir. Ich – Moritz, bei der EM-Endrunde keine Minute gespielt, Kleine-Brockhoff – soll erzählen, wie ich München´93 erlebte. Nun ja: sitzend halt. Von der Bank aus. Von dort hatte ich einen besonders guten Blick auf den letzten Wurf des Finales. Wir reden ja bis heute, durchaus zurecht, über den Dunk und den Freiwurf unseres EM-Helden Chris Welp, der 2015 viel zu früh starb. Mehr dazu später. Ich meine jetzt erstmal den allerletzten Wurf des Finales, das Ding nach dem Dunk und dem Freiwurf, das Ding, das der Russe Vladimir Gorin noch losließ. Er hatte, mit einer Sekunde auf der Uhr, einen good look.

Es war ein recht tiefer Dreier, aber er war machbar. Gorin lässt das Ding also fliegen, der Ball geht Richtung Korb, nice arc und so – und für mich steht plötzlich die Zeit still. Laut Video ist der Ball keine zwei Sekunden in der Luft. Für mich ist es eine Ewigkeit. Rechts neben mir sind an der Seitenlinie Mike Jackel, Stephan Baeck und der Alte, sprich Pesic. Alle stehen. Ich bleibe sitzen. Wir alle starren diesem grausam lange in Richtung Ring schwebenden Schicksal-Ball hinterher. Geht er rein, ist Russland Europameister. Dann würden wir die EM`93 heute vor allem mit einem Namen verbinden: Vladimir Gorin. Aber zum Glück kennt den niemand mehr. Zum Glück geht der Ball erst ans Brett, dann hinten an den Ring und schließlich was weiß ich wohin. Dann: nur noch Jubel. Wir sind Europameister. Erstaunlich an diesem letzten Wurf war auch, dass Chris Welp – transition defense war nun wirklich nicht sein Ding – dieses eine Mal tatsächlich zurückgesprintet war. Er störte Gorin, ohne ihn zu foulen. Irre.

Held Kai Nürnberger

Die EM-Endrunde in München brachte einige Überraschungen. Für mich zum Beispiel, dass meine besten Freunde aus Köln und aus Essen nicht kamen, um zuzuschauen. „Eine Narbe“ nennt mein Kumpel Schappy, durchaus ein Basketball-Freak, den kleinen Skandal heute. „Wir glaubten nicht, dass ihr gewinnen könntet.“ Fairerweise: das glaubte niemand. Wir hatten mit Ach und Krach die Vorrunde in Berlin überlebt. Beim Viertelfinale gegen Spanien war die Halle in München halb leer, beim Halbfinale gegen Griechenland war sie voller Griechen. Aber dann, mit unseren back-to-back Siegen im Rücken, vor dem fast ausverkauften Endspiel gegen Russland, da dachten wir: Warum nicht? Mein Bruder Thomas – Zug aus Hamburg, Spiel geschaut, Nachtzug zurück, morgens wieder im Büro – kam zum Endspiel. Da saßen wir dann also, er irgendwo weit oben und ich unten auf der Bank, und träumten von der Sensation.

Foto: imago/Oliver Behrendt

Es war ein hässliches Spiel. Eine low-scoring Defense-Schlacht mit 40 Fouls, die am Ende einen Helden brauchte. Ich sah drei. Natürlich Chris Welp. Und Henrik Rödl, der 45 Sekunden vor Schluss den wichtigsten Block seines Lebens hatte. Der allergrößte Held war für mich Kai Nürnberger. Er sorgte in den letzten drei Minuten für fast alle acht Punkte, die wir noch machten. Erst Kais and-one-drive bei fünf Punkten Rückstand, dann sein drive zum Ausgleich. Babkov trifft zwei Freiwürfe, wir sind wieder zwei hinten. Dann Kais Antwort ein paar Sekunden vor Schluss: er zieht links an Bazarevic vorbei, Michajlov muss helfen, Kai legt ab auf Chris für den Dunk, der Geschichte schrieb. Drei scores, alle plays von Kai. Kein set-play dabei, alle drei kreiert. Das musst Du erstmal bringen. In der, aus deutscher Sicht, Crunchtime des Jahrhunderts. In drei Minuten, die darüber entscheiden, ob Du als Spieler unsterblich oder vergessen wirst. Wahnsinn.

Der Dunk

Nun zum Dunk. Da muss ich ausholen. Als Chris Welp Mitte der 80er bei den Washington Huskies in Seattle College spielte, war ich ein paar Kilometer entfernt auf der High School, auf der zuvor auch Chris gewesen war. Ich fuhr zu seinen NCAA-Heimspielen, wollte ihn spielen sehen. Chris war in shape. Er machte 20 im Schnitt. Er dunkte, wie er wollte. Nach Spin-moves im low-post, nach Rebounds, nach drives. Von vorne, von der Seite, reverse. Dazu hatte Chris unfassbar gute Hände. Und er konnte schießen, passen, rebounden. Er konnte alles. Später, in der NBA, in seiner Rookie-Season bei den 76ers, änderte sein Kreuzbandriss vieles. Chris´ Knie kam nie wieder so richtig in Ordnung. Damit war er nicht mehr der alte. Er sprang nicht mehr, jedenfalls nicht mehr nennenswert. Er sprintete nicht mehr. Er kam nicht mehr in shape. Aber weil Chris immer noch ein Big Men mit crazy skills war, blieb er einer der besten Center Europas. Ich habe Anfang der 90er Jahre vier Jahre lang mit ihm in Leverkusen gespielt. Ich kann mich an smoothe jumper erinnern und an brutale Blocks, die er setzte. An geile Pässe und an seine Auto Motor Sport Magazine im Bus nach Bamberg oder sonstwo hin. Aber ich kann mich in den vier Jahren in Leverkusen an keinen nennenswerten Dunk von Chris erinnern. Nicht im Spiel, nicht beim Warmmachen und schon gar nicht im Training. Er hatte Sorge um sein Knie. Und dann, an jenem 4. Juli 1993 in München, nach sechs Jahren ohne Dunk in traffic, kriegt Chris also fünf Sekunden vor Schluss und zwei Punkte hinten im EM-Finale unterm Korb diesen Ball von Kai gesteckt. Mikhail Michajlov, immerhin 2,07m, ist in der Nähe. Es ist klar, dass er alles versuchen wird, Chris hart zu foulen, ihn nicht scoren zu lassen, sondern an die Linie zu schicken. In diesem Moment, diesem Career-defining Alles-oder-Nichts-Moment, in diesem Bruchteil einer Sekunde, in dem Chris entscheiden und machen muss, da ist plötzlich kein Zögern, kein Überlegen, kein Zweifel. Ihm ist, das erzählte er mir später, sofort klar: „Jetzt musst Du stopfen.“ Und er zieht das Ding tatsächlich durch! And one! Dass Chris den Freiwurf trifft, war uns allen klar. Er war cool.

Das ewige Rumschreien des Alten

Bei der EM-Endrunde auf der Bank zu sitzen, war Qual. Ich wollte spielen, wollte helfen, wollte etwas dazutun – durfte aber nicht. Ich hatte, wie jeden Sommer, diese wochenlange, elendige Schufterei mitgemacht: Trainingslager in der Pampa, in Bad Griesbach. Dutzende, harte Einheiten, dann Flugzeug hier, Bus da, nächstes Spiel dort. Das ewige Rumschreien des Alten. Dafür sind wir ihm, Pesic, heute dankbar. Damals hat es genervt. Die Hotelzimmer, die fürchterlich stanken, weil Henrik Rödl und ich es damals cool fanden, unsere nassen Trainingsklamotten irgendwo hinzuschmeißen, statt sie aufzuhängen. Die Pferdeküsse, die Zerrungen und die dicken Knöchel nach Umknicken, die ich mir nicht anmerken ließ, weil ich meinen Platz in der EM-Mannschaft nicht verlieren wollte.

Bei der EM bekam ich in der Vorrunde in Berlin ein paar Minuten Garbage-Time gegen Belgien, traf zwei irrelevante Freiwürfe. Das war´s. Verstehen, dass ich auf der Bank saß, konnte ich schon. Ich war kein grandioser Basketballer. Ich konnte überhaupt nicht schießen. Ich war zu klein, um auf EM-Level inside was auszurichten. Ich konnte nicht besonders passen. Handle? Null. Dass ich immer nach rechts zog – immer all the way, weil ich keinen pull-up jumper hatte – das wusste jeder. Zum Glück gab es damals keine Statistik, die meine Offensiv-Fouls, wahrscheinlich Hunderte, erfasste. Bei 38 Länderspielen bin ich nur ein Mal wirklich aufgefallen: 1989 vor einem Spiel gegen Griechenland in Wuppertal, als ich beim Warmmachen per Dunk das Backboard shatterte. Das fanden zunächst alle cool – high five und so – nervte aber letztlich, weil es gefühlte zwei Stunden dauerte, bis ein neues Brett hing und das Spiel endlich losgehen konnte.

Unangenehme Beißer-Defense

Dass mich jemand in seine Mannschaft holte, hatte wenig glamouröse Gründe. Ich wollte gewinnen wie kaum ein anderer und tat so ziemlich alles dafür. Ich war in shape, schnell und brutal. Wenn ich zum Korb zog, musste man sich sehr gut überlegen, ob man tatsächlich das Charge nehmen wollte. In transition hatte ich sogar ein, zwei Moves – crossover, hesitation – da war ich nicht so leicht zu stoppen. Meine wahre Stärke war jedoch eine fiese Beißer-Defense, die schlicht unangenehm war. Es machte überhaupt keinen Spaß, gegen mich zu spielen. In Leverkusen war es mein Job, als sechster Mann einen Energieschub von der Bank zu bringen und in der Defense den besten Angreifer auf dem Flügel zu stoppen. Dass ich das ganz gut draufhatte, wusste auch Pesic. Er kannte mich seit Mitte der 80er Jahre. Damals, als wir 15 bis 17 Jahre jung waren, hatte seine legendäre Jugoslawien-Juniorenmannschaft (Kukoc, Divac, Radja) uns Deutsche (Harnisch, Rödl, Kleine-Brockhoff) bei zwei Europa- und einer Weltmeisterschaft unbarmherzig abgezogen, sprich mit 30 nach Hause geschickt. Als Pesic dann unser Bundestrainer wurde, setzte er mich manchmal als defensiv-enforcer ein, um einen Spieler zu stoppen, der heiß gelaufen war. Auf den Moment wartete ich auch bei der EM in München. Ich war ready. Aber der Moment kam nicht. Das ist irgendwie schade, aber im Nachhinein nicht schlimm. Wir haben gewonnen. Das war und ist schön.

Für mich war es schon ein Erfolg, ´93 überhaupt in der EM-Mannschaft zu sein. Vor großen Turnieren wurden 15 Spieler ins Trainingslager eingeladen. Drei fliegen raus. 1992 hatte ich mir eigentlich einen Platz in der Mannschaft erkämpft, die später bei Olympia in Barcelona gegen das Dream-Team spielte. Detlef Schrempf war nicht ins Trainingslager gekommen, er wollte den Sommer frei machen, hatte abgesagt. Dann überlegt er es sich anders und kommt doch – und ich fliege deshalb aus der Mannschaft. Gut: Ohne Detlef wäre die Olympia-Quali in Murcia nicht unbedingt gelungen. Er war ein großartiger Spieler und ich, well, ich war es nicht. Aber Pesic hätte jemand anderen streichen können. Hat er aber nicht. Er strich mich. Dieser cut, durch den ich Barcelona´92 verpasste, bleibt die bitterste Enttäuschung meiner Karriere. Eine Narbe. Ich flog auf die Malediven, wo es damals keine Fernseher gab. Die Olympia im TV zu sehen, hätte ich nicht ertragen. Ich habe mir bis heute keine Minute angesehen.

Das EM-Ticket

Nur drei Monate nach den Spielen, im November 1992, schlug dann unverhofft meine Stunde. Wahrscheinlich erinnert sich kaum noch jemand daran, dass wir uns – Austragungsland hin- oder her – für die EM‘93 qualifizieren mussten. Wir hatten drei Spiele gewonnen, aber in Israel und in Polen verloren. Nun mussten wir im letzten Quali-Spiel, in Aachen gegen Portugal, unbedingt gewinnen, um zur EM zu kommen. Der DBB war hochgradig nervös: eine EM im eigenen Land ohne die deutsche Mannschaft? Katastrophe. Vor dem alles entscheidenden Quali-Spiel in Aachen: Mike Koch verletzt. Mike Jackel verletzt. Henrik Rödl verletzt. Und so musste ich ran. Besser gesagt: ich durfte.

Zwar wünscht man natürlich niemandem Verletzungen. Aber das Spiel gegen Portugal war die Chance, auf die ich lange gewartet hatte. Und als sie da war, dachte ich nur: JETZT! Und so habe ich dann, zum Glück, auch gespielt. Henning Harnisch und Stephan Baeck fingen an, ich kam recht früh in der ersten Halbzeit von der Bank, machte letztlich 11 Punkte in 18 Minuten und wir gewannen. Nicht, dass ich das Spiel rumgerissen hätte. Am Ende war es ein 40 Punkte blow-out. Aber ich hatte, als es drauf ankam und dieses verdammt wichtige Spiel noch nicht entschieden war, etwas dazugetan. Nach dem Spiel starrte ich den Alten – den Pesic, der mich aus der Olympia-Mannschaft gestrichen hatte – lange mit einem mega-ernsten Blick an. Ich war sozusagen in his face, was man nun wirklich nicht machte, weil wir so eine Ehrfurcht vor ihm hatten. Schließlich hat Pesic – kein Mann der positiven Geste – mir ganz kurz zugenickt. Da wusste ich: der Sieg in Aachen bedeutete nicht nur Deutschlands EM-Ticket, sondern auch meins. Ich feierte mit meinen Kumpels, die aus Köln gekommen waren. Einer von ihnen, Castello, trug sich zunächst, bereits ordentlich angetrunken, bei einem Empfang ins Goldene Buch der Stadt Aachen ein. Später tranken wir in Köln in einer Eckkneipe weiter, im EWG. Ich werde den Tag nie vergessen.

Lebenslang Europameister

Dann, ein gutes halbes Jahr später, die EM in Berlin und München. Ich bin tatsächlich dabei. Dass wir nach dem Finale beim Feiern in München mit einer Ausnahme ziemlich versagten, ist bekannt. Nur Henning Harnisch hatte offenbar eine ordentliche Party-Nacht, wobei die genauen Umstände nebulös bleiben. Wir anderen, wir waren alle fürchterlich müde, völlig ausgelaugt. Dafür haben wir später so oft auf den Titel angestoßen, dass es keiner mehr zählen kann. Zudem treffen wir uns bis heute immer bei runden Jubiläen. Auch demnächst, zum 30. im kommenden Jahr. Damals, ´93, dachte ich, man ist Europameister und mit der nächsten EM wird es jemand anders. Aber es hat sich herausgestellt: man trägt den Titel lebenslang. Lebenslang Europameister. Selbst so einer wie ich, der nur auf der Bank saß.

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